8.9.2023 – 5.2.2024
La Chola Poblete: Guaymallén
Deutsche Bank „Artist of the Year" 2023
Guaymallén ist eine Gemeinde in der Provinz Mendoza in Argentinien. Hier wurde La Chola Poblete, „Artist of the Year" 2023 der Deutschen Bank, 1989 als Mauricio Poblete geboren. Hier wuchs sie auf, in ihren eigenen Worten „umgeben von einer Landschaft mit Olivenbäumen und Weinbergen, mit atemberaubenden Herbsttagen und der immer präsenten, sehr beeindruckenden Gebirgskette der Anden“. Die Ausstellung Guaymallén ist eine Hommage an ihre Wurzeln, an die Zeit des Aufwachsens als nichtbinärer, Indigener Teenager, in der sie zu zeichnen begann, Kunst und Popkultur erkundete und mit ihrer queeren Identität experimentierte.
Kuratiert von Britta Färber, Global Head of Art&Culture Deutsche Bank
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Heute zählt La Chola Poblete zu den wichtigsten künstlerischen Positionen Lateinamerikas. Guaymallén führt nicht in eine verlorene „ursprünglichere“ Zeit zurück: Die Schau verbindet ihre Biografie und kulturästhetische Bezüge mit grundsätzlicher Kritik, indem sie sich mit den Folgen von Kolonialismus und Kapitalismus im Kontext der Auslöschung und Stereotypisierung Indigener Völker und Kulturen beschäftigt. Dabei thematisiert die Künstlerin die historischen Rollen von Frauen, Transvestiten und Transsexuellen – alles Formen einer Weiblichkeit, die von religiösen und patriarchalen Ideologien verfolgt und geächtet oder verehrt und als Opfer dargebracht werden.
In ihren Ausstellungen und Performances schafft La Chola Räume für Trauer, Heilung, nichtbinäre Repräsentationsformen und Schönheit. Zugleich zeigt sie die Verbindung von Kunstinstitutionen und vorherrschenden Denkmustern auf und vergleicht die heutige Rolle der Museen mit jener der Kirchen in der Vergangenheit. Ihre Ausstellung sei eine „Kirche der Zeichnung“, sagt La Chola, ein spiritueller Raum, der voller queerer Zeichnungen, Bilder und Symbole ist. Auch hier werden Geschichten von Jungfrauen, Märtyrerinnen und göttlichem Handeln erzählt, aber aus völlig anderer Perspektive.
Eine Maske aus Brotteig in einem blauen Raum, gefolgt von Wänden voller Logos von Rockbands, Schriftzeichen und Elementen der argentinischen Massen- und Fankultur, die sich mit mythologischen Symbolen der Anden vermischen, während auf dem Boden archaisch anmutende Figuren auf die Nazca-Linien der Inkas verweisen – die gigantischen, nur aus der Luft in ihrer Gesamtheit sichtbaren Scharrbilder in der peruanischen Wüste: Solche Motive tauchen immer wieder auf, wie etwa auch die mit Monogrammen und Symbolen der Andenvölker verzierten Metalllanzen, die zugleich an Folterinstrumente der Inquisition erinnern. In der Ausstellung hängt an ihnen ein T-Shirt, oder sie dienen als Träger einer kreuzförmigen Installation aus Aquarellen und Brotmasken.
Hybride Wesen finden sich in La Cholas jüngsten großformatigen Aquarellen, die mit einem Allover aus abstrakten, religiösen, mythologischen und popkulturellen Motiven bedeckt sind. Sie thematisieren vielfach die ambivalente Figur der Jungfrau, ein Leitmotiv der Ausstellung. So präsentieren zwei Kabinette skulpturale Versionen einer Jungfrau von La Chola: Eine aus Brotteig geformte Figur auf einem Holzgestell steht in einem Berg von Kartoffelchips. Die Kartoffel wurde vor 8 000 Jahren durch die Andenvölkern domestiziert, von den Kolonialherren exportiert und in den westlichen Industrienationen zum wichtigsten Grundnahrungsmittel – heute ein auf die Bedürfnisse der Konsument*innen perfekt zugeschnittenes Industrieprodukt. Die Figur ist angelehnt an die „Vírgenes para vestir“: Marienstatuen, die je nach Liturgie angekleidet und seit dem 16. Jahrhundert bei katholischen Prozessionen vorangetragen werden. Ihr Oberkörper ist fein ausgearbeitet, der Unterkörper eine einfache Konstruktion, die je nach Anlass neu angekleidet wird. Bei La Chola hat die Gestalt kein eindeutiges Geschlecht. Von Pfeilen durchbohrt, steht sie stoisch und unbesiegbar da.
Die zweite Version der Jungfrau ist eine liegende, aus Brotteig gebackene Figur. Sie verweist auf die kunstvollen, morbid-erotischen Wachsplastiken mit aufklappbarem Bauch des 16. bis 18. Jahrhunderts, die als „Anatomische Venus“ bezeichnet werden, Anstelle der inneren Organe finden sich in La Cholas Version aber sakrale Keramikgefäße und Flaschen – eine Anspielung auf die Hybridisierung Indigener und katholischer Kultur, aber auch auf alternative Möglichkeiten der Fortpflanzung.
Um Macht und Unterwerfung geht es in La Cholas fotografischen Inszenierungen: Sie wird als Märtyrerin von einem Mann gehäutet oder säugt wie die Wolfsmutter von Romulus und Remus junge weiße Männer. Diese erinnern mit ihren schwarzen Hosen, weißen Hemden und Krawatten an die mormonischen „Elder“ auf ihren Missionsreise. In La Chola Pobletes künstlerischem Kosmos verkörpern sie eine aktuelle Form des Kolonialismus, eine Verbindung von Kapitalismus, christlicher Religion und weißer Vorherrschaft. Die Männer saugen sie buchstäblich aus. Zugleich sind es erotische Akte, in denen sich auch Stärke und Emanzipation Indigener und weiblicher Kultur manifestieren. Gerade weil die Kunst von La Chola Poblete auf einfache Erklärungen verzichtet und stattdessen vielfältige, auch abgründige Zusammenhänge aufzeigt, ist sie für die aktuellen Debatten einer komplexen Welt so wichtig.
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Die Deutsche Bank vergibt einmal im Jahr die Auszeichnung „Artist of the Year“. „Artist of the Year“ ist Englisch und bedeutet „Künstler*in des Jahres“. Die Kunstwerke sollen Themen behandeln, die in unserer Gesellschaft aktuell wichtig sind. Die Deutsche Bank zeigt die Kunstwerke dann in einer Ausstellung im PalaisPopulaire und in einem Katalog. So können mehr Menschen diese Künstler*innen kennenlernen. Die Auszeichnung „Artist of the Year“ gibt es seit 12 Jahren.
Wer bekommt die Auszeichnung 2023?
In diesem Jahr zeichnet die Deutsche Bank die Bildende Künstlerin und Performerin La Chola Poblete aus. Die Argentinierin setzt sich stark für LGBTQ- und Trans-Rechte ein. LGBTQ ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Queer. Das ist Englisch und bedeutet lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich und nicht-heterosexuell.
La Chola wurde 1989 in Guaymallén im Nordwesten Argentiniens geboren. Ihr Werk besteht aus verschiedenen Medien, zum Beispiel aus Malerei, Video-Kunst und Performances. In ihren Arbeiten beschäftigt sich La Chola zum Beispiel mit diesen Themen, Ereignissen und ihren Folgen besonders für die Menschen in Südamerika:
- die Inquisition, also die Verfolgung von andersdenkenden Menschen durch die katholischen Kirche
- die Kolonialisierung, also die Eroberung von Gebieten durch fremde Länder
- die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf der Welt
Dabei sucht La Chola nach neuen Formen von Gemeinschaft, Erinnerung und Widerstand.
Was können Sie in der Ausstellung sehen?
„Guaymallén“ ist La Cholas 2. Einzelausstellung in einer Kunsteinrichtung in Europa.
Für diese Ausstellung schafft La Chola mit vielen neuen Arbeiten eine „Kirche der Zeichnung“. In diesem „heiligen Raum“ vermischen sich Themen und Zeichen aus Religion, Politik, Erotik, Volkskultur und indigenen Völkern. Indigene Völker sind Menschengruppen, die schon vor der Eroberung durch Kolonisatoren in einem Gebiet gelebt haben.
La Chola macht die Schönheit, Grausamkeit und den Protest in der Menschheitsgeschichte sichtbar. Dabei spielen mehrere große Aquarell-Bilder und neue Foto-Arbeiten eine wichtige Rolle sowie eine Installation, also ein Kunstwerk aus verschiedenen Teilen, die im Raum angeordnet sind.
Zu Beginn der Ausstellung durchquert man einen rot leuchtenden Raum. Dann geht man an einer Wand vorbei. Auf dieser Wand sieht man Graffitis und den Schriftzug „Guaymallén“. Außerdem gibt es dort tanzende Figuren, undeutliche Gesichter und eine Fahne mit den Namen von Musikgruppen und politischen Botschaften.
Am Ende der Ausstellung gibt es 2 Kammern, die an Kapellen erinnern. Auch hier sollen die Besucher*innen wie bei einem Gottesdienst in Ruhe nachdenken. Die Kunstwerke in den Kammern erzählen von Jungfrauen, göttlichen Taten und von Frauen, die für ihren Glauben grausam sterben mussten. La Chola stellt das alles aber nicht aus der Sicht eines Opfers dar, sondern sie erzählt selbstbewusst und rebellisch. So bekämpft sie den Schmerz aufgrund vergangener Ungerechtigkeiten.
Was will die Künstlerin mit dieser Ausstellung ausdrücken?
Der Titel der Ausstellung ist gleichzeitig der Name von La Cholas Geburtsort. Damit erinnert La Chola an ihre Herkunft und ihre Jugend als indigene und nicht-binäre Person. Nicht-binäre Personen ordnen sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zu.
La Chola ist heute Mitglied des queeren Kollektivs „Comparsa Drag“. Das ist eine Gemeinschaft von Menschen, die verschiedene Sexualitäten ausleben.
La Chola verbindet ihre eigene Lebensgeschichte mit der Geschichte ihres Landes. Kolonialmächte haben Amerika ab dem 15. Jahrhundert überfallen und nur noch christliche Religionen erlaubt. Die neuen führenden Herrschafts-Strukturen vernichteten die indigenen Völker und Kulturen in Amerika brutal und sorgten dafür, dass es noch heute Vorurteile gegen sie gibt.
La Chola thematisiert auch die Rollen von Frauen, Transvestiten und Transsexuellen in der Geschichte. Transvestiten tragen als Mann Frauenkleider oder als Frau typische Männerkleidung. Transsexuelle Menschen können sich mit ihrem ursprünglichen Geschlecht nicht identifizieren und möchten ihren Körper dem anderen Geschlecht angleichen.
Die verschiedenen Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit wurden in den religiösen und unterdrückerischen Machtstrukturen verfolgt, ausgeschlossen und ermordet.
Außerdem beschäftigt sich La Chola mit der Verbindung von Kunsteinrichtungen und den aktuellen Machtstrukturen. Sie vergleicht die Rolle der Museen heute mit der Rolle der Kirchen in der Vergangenheit. La Cholas Kunst ist manchmal brutal und manchmal voll bitterbösem Humor. So macht sie uns deutlich: Wir müssen auch heute immer aufpassen, dass wir nicht unkritisch den Erzählungen von weißen, unterdrückerischen Herrschern folgen.
Die bisherigen Ausstellungen der Künstlerin
La Chola Pobletes Werke waren bereits in Einzel- und Gruppenausstellungen in Lateinamerika und Europa zu sehen, zum Beispiel in der Ausstellung „34 Argentine Artists“ im Museo Moderno de Buenos Aires (2021) in Argentinien, in der Kunsthalle Lissabon (2023) und im Centro Internacional Das Artes Jose de Guimaraes (2022) in Portugal sowie im MAC im spanischen Córdoba (2019).
Das Museo de Arte Moderno de Buenos Aires in Argentinien hat im Jahr 2022 eine große Einzelausstellung von La Chola mit dem Titel „Ejercicios del llanto“ gezeigt. Das ist Spanisch und bedeutet „Übungen im Weinen“. Die Direktorin dieses Museums, Victoria Noorthoorn, hat die Kunstwerke für die Ausstellung im Museo de Arte Moderno de Buenos Aires zusammengestellt. Außerdem gehört Victoria Noorthoorn mit Hou Hanru und Udo Kittelmann zum Deutsche Bank Global Art Advisory Council. Diese Gruppe von Kunst-Expert*innen hat vorgeschlagen, La Chola mit dem Preis „Artist of the Year 2023“ auszuzeichnen.
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Der Text in Einfacher Sprache ist von capito Berlin. 3 Personen aus unterschiedlichen Zielgruppen haben die Verständlichkeit geprüft.
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Seit 2010 zeichnet die Deutsche Bank jährlich einen Kunstschaffenden aus und bietet so neuen, globalen Positionen in der aktuellen Kunst eine Plattform. Das Werk des „Artist of the Year“ soll dabei immer von gesellschaftlicher und künstlerischer Relevanz sein und neue Perspektiven auf die Gegenwart entwickeln. Zu dem maßgeschneiderten Paket zählen eine Ausstellung, ein Katalog und Ankäufe für die Unternehmenssammlung. Die Nominierungen für die Auszeichnung werden vom Global Art Advisory Council der Deutschen Bank vorgeschlagen, zu dem die Kurator*innen Hou Hanru, Udo Kittelmann und Victoria Noorthoorn gehören.

FreeTour
Samstag, 15 Uhr (auf Englisch)
Sonntag, 15 Uhr (auf Deutsch)
Für den Ausstellungsbesuch:
Videos

Activity Cards für unsere jüngsten Gäste!
Entdeckt Kunstwerke aus der Ausstellung La Chola Poblete: Guaymallén durch Zeichnen und Malen! Fragt am Museumscounter nach der Karte oder druckt sie euch für zu Hause aus:
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Bild 1: Installationsaufnahme PalaisPopulaire 2023 | von links nach rechts: La Chola Poblete, Barroco Andino (Anden-Barock), 2023; Virgen del Carmen de Cuyo (Jungfrau von Carmen de Cuyo), 2023; Rosa Mística (Mystische Rose), 2023; Virgin de la Carrodilla (Jungfrau von Carrodilla), 2023; No voy a dejar que la muerta se lleve a mis amigas (Ich werde nicht zulassen, dass der Tod meine Freunde wegnimmt), 2023; © La Chola Poblete, Foto: Mathias Schormann
Bild 2: La Chola Poblete, Maria & papas lays (Maria & Kartoffelchips), 2023; © La Chola Poblete, Foto: Mathias Schormann
Bild 3: La Chola Poblete, Foto: Tomas Wurschmidt